Sankhya und Yoga

Der Schwerpunkt dieser Broschüre liegt auf den beiden Schwestersystemen Sāṅkhya und Yoga, letzteres im Sinne des Yoga Sūtra von Patañjali. Genau genommen baut das Yoga-System auf Sāṅkhya auf. Der Autor Pandit Rajmani Tigunait führt uns die Ver­bin­dung­en geschickt aus seiner um­fas­senden Sicht als Philosoph, Sanskrit-Ge­lehrter und Prakti­zierender von Yoga in der Tradition von Patañjali und der Meister des Himalayas vor Augen. Ja, er geht noch weiter und verweist uns auf die Einflüsse von Śākta Tantra, wie auch Vedānta, die in der Śrī-Vidyā-Tradition der Meister des Himalayas verwoben sind.

In diesem Sinne ist diese Broschüre eine Einladung, unsere eigene Weltsicht besser zu verstehen und diese im Kontext von Sāṅkhya und Yoga zu „erleuchten“.

Auch wenn wir umgangssprachlich gerne von „der indischen Philosophie“ reden, exis­tiert eine solche einheitliche Philosophie nicht. Der indische Kulturraum hat – wie alle Kulturen der Welt – eine ganze Reihe von Philosophien hervorgebracht. Diese Philo­sophie-Systeme werden darśana genannt.

Die sieben wichtigsten Systeme dieser um­fassenden Weltsichten sind: Buddhis­mus, Niyāya, Vaiśeṣika, Sāṅkhya, Yoga, Mīmāṃ­sā und Vedānta. Daneben existieren eine große Anzahl weiterer Systeme, wie etwa Jainis­mus, Cārvāka und Strömungen des Tantra von Śākta über Śaiva bis hin zu Vaiṣṇava.

Die Übergänge zwischen den Systemen sind fließend und sie beeinflussen sich wechsel­seitig sehr stark. Wie in allen Denkschulen der Welt existieren in jedem Sys­tem Hard­liner, die eine sogenannte reine Lehre ver­treten. Angesichts der flie­ßen­den Grenzen ist also Viveka – Unter­schei­dungskraft – geboten, wenn wir uns mit diesen Philo­sophiesystemen beschäftigen. Ihnen allen liegen dieselben existentiellen Fragen des Menschseins zugrunde:

• Wer bin ich?
• Woher komme ich und wa­rum bin ich gekommen? Was ist meine Be­zieh­­ung zum vielfältigen Universum und zu an­deren Menschen?
• Was ist die essentielle Na­tur meines Seins und was ist die essen­tielle Natur der manifestierten Welt und ihrer Ursache? Was ist die Beziehung zwischen dem Zentrum des Bewusstseins und den Objekten dieser Welt?
• Was ist das Wesen der Formen und Namen der Objekte der Welt und wie dienen sie der essentiellen Natur des Menschen oder dem universalen Bewusstsein?
• Was sind die Richtlinien für das Handeln, solange wir in einem natürlichen Körper leben?
• Leben wir nach dem Tod weiter?
• Was ist Wahrheit und wie kommen wir zu rationalen Schlussfolgerungen über Fragen der Wahrheit?

Es ist hilfreich, sich klarzumachen, dass die Antworten auf diese Fragen nach dem Menschsein aus den Erfahrungen zahlloser Weisen vor uns schöpfen. Die daraus ge­wachs­enen Systeme sind letztlich Modelle der „Wirklichkeit“, die versuchen, subtile Aspekte des Seins bis hin zu transzendenten Erfahrungen in Worte zu packen, die für die entsprechende Zuhörerschaft – es waren bis vor nicht allzulanger Zeit hauptsächlich münd­liche Traditionen – aufbereitet wur­den. Auch dieser Aspekt des in Worte gegos­senen Modells oder Abbilds der „Realität“ rät zur Vorsicht, wenn Hardliner die reine Lehre verkünden.

In dieser Broschüre gibt Pandit Rajmani Tigunait eine offene, verständliche und zugleich tiefgründige Einführung zu Sankhya und Yoga. Die Broschüre ist vor allem für Yogalehrende und Yogaübende gedacht, die ihr philosophisches Verständnis vertiefen wollen. Der Haupttext dieser Broschüre entstammt dem umfangreichen Anhang von Das Geheimis des Yoga Sutra – Samadhi Pada. Patañjalis praktischer Leitfaden zu innerer Stille und Freude im Leben, das für all jene Leserinnen und Leser als Alternative empfohlen ist, die auch in die Feinheiten der Yoga-Philosophie nach Patañjali eintauchen wollen.